Bereits in früher Kindheit erfahren wir, dass wir uns ändern müssen, um Erwartungen unserer Bezugspersonen zu entsprechen. „Sei lieb und du bekommst einen Bonbon… Hör auf zu zappeln, du störst! Warum bist du nur so ungeschickt, laut, grob, dreckig?“
Als Kinder lieben wir bedingungslos und sehen nicht, was die Wahrheit ist (Mutter ist müde, Vater überarbeitet, Oma alt und gebrechlich…), sondern wie diese Wahrheit auf uns wirkt. Und so formt unsere Wirklichkeit aus perfekten Wesen, liebende kleine Geschöpfe, die sich immer mehr für unperfekt halten.
Jahre später erkranken diese Geschöpfe an Krankheiten, von deren Ursprung sie nicht die leiseste Ahnung haben. Wie auch? Wenn wir als Kinder eine Verletzung durchlebten und unsere Eltern uns dazu anhielten, stark zu sein, schoben wir diese Verletzung in eine Schublade, die randvoll wurde, je mehr wir verletzt worden sind.
Wie viel Schmerz, wie viele belastende Erinnerungen (fremde und eigene) glaubst du wohl, bist du imstande mit dir zu tragen, bevor dein System nicht mehr funktioniert?
Wie viele Menschen kennen das, dass uns etwas nach Jahrzehnten noch immer mitten ins Herz trifft, obwohl das ursächliche Ereignis nicht einmal bewusst erinnert wird?
Manchmal ist es nur ein Geruch, ein Klang, eine Berührung, die alles lebendig werden lässt. Und wieder versuchst du eine Schublade zu öffnen, um die nächste Emotion, die du nicht verarbeiten kannst, hineinzustopfen. Und ist da kein Platz, schaffst du dir Orte, an denen du Gefühle, die dich überfordern, einsperren kannst. Doch wie lange geht das so weiter? Wie lange dauert es wohl, bis sich auch körperlich Symptome zu Wort melden?
Fühlst du dich angesprochen? Klingelt etwas in dir und lässt dich wissen, dass meine Worte zum richtigen Zeitpunkt dein Herz erreichen?
Als feinfühliger Mensch nimmst du die Bedürfnisse anderer im besonderen Maße wahr. Ob du dich für deine Kinder, deinen Partner oder deine Freunde aufopferst oder in deinem Job so viel gibst, dass nicht mehr viel für dich selbst übrigbleibt…
In deinem Fokus auf andere Menschen liegt gleichzeitig deine größte Herausforderung.
Denn was glaubst du, wer der wichtigste Mensch in deinem Leben ist? Was denkst du, wieviel du als Mutter, Ehefrau oder Freundin noch geben kannst, wenn das Gefäß, aus dem du schöpfst, leer ist? Und wie lange kannst du wohl noch aus diesem Gefäß schöpfen? Ein Jahr, zwei, zehn?
Wie oft höre ich von meinen Klienten folgende Worte: „Wenn die Kinder aus dem Haus sind, dann werde ich …“
Es gibt so viele Endlich, die ich dann höre, und mindestens genauso viele Aber, dass es weh tut. Die meisten Menschen halten aus, weil sie glauben, sie seien nicht wichtig genug. Was für ein Trugschluss!
Glaubst du wirklich, dass am Ende unserer Tage zählt, wie lange du AUSGEHALTEN hast? Wie lange du für die anderen ein Leben gelebt hast, das nicht deines war?
Es ist nicht egoistisch, sich selbst wahr- und vor allem ernst und wichtig zu nehmen, mit all deinen Themen, mit all deinen (verdrängten) Schmerzen und Wunden, die so weit zurückreichen, dass du lediglich die Trigger der Themen benennen kannst, statt ihren Ursprung zu finden und auflösen zu können. Es ist nicht egoistisch. Es ist überlebenswichtig.
Ich begegne so vielen Menschen, die einfach nicht wissen, wie sie ihre Themen angehen können. Manche erlauben sich vielleicht ein Buch darüber zu lesen, was sie sich gern ansehen würden, kratzen an der Oberfläche und legen es schnell beiseite.
Ich kratze nicht an der Oberfläche. In meiner Arbeit gehen wir tiefer. Viel tiefer.
Ja, es kann Angst machen, einen ehrlichen Blick zu riskieren.
Doch keiner gewinnt, wenn du dich für den Schmerz entscheidest, weil du glaubst, dein Schmerz sei weniger wichtig als der der anderen. Erlaube dir zurückzusehen und zu erkennen, wann dieser Schmerz dir das erste Mal begegnet ist.
Ja, es ist eine Reise, die dich an Orte bringen könnte, die du nie wieder betreten wolltest. Es kann sogar sein, dass wir viel weiter zurückreisen müssen, damit du verstehen kannst. Doch du musst da nicht allein dorthin. Ich bin da.
Mancher Schmerz ist außerdem gar nicht deiner. Und trotzdem agierst du ihn Tag für Tag aus.
Wir ziehen in Kriege und leiden daran, dass wir nicht gewinnen können. Dabei sind es Kriege, die unsere Vorfahren schon nicht gewinnen konnten. Trauer, Wut, Schmerz und Verzweiflung von Menschen, die einst vertrieben wurden oder in der Kriegsgefangenschaft Unmenschliches aushalten mussten … All das ist in uns, weil es unser Erbe ist. Und manchmal ist das viel lebendiger in uns, als wir uns das vorstellen können.
Manche Wut in dir ist viel älter, als du es dir vorstellen kannst. Du denkst, es ist nur dieser eine Streit mit deinem/r Freund/in oder eine Situation in der Arbeit, die du immer wieder vom Neuen durchlebst und nicht verstehen kannst. Muster, die immer wieder etwas in dir an die Oberfläche holen und dir vorgaukeln, die haben ihren Ursprung in genau dieser einen Situation gerade.
Haben sie nicht. Manchmal haben sie nicht einmal etwas damit zu tun, dass du in deinen frühen Jahren mit deinen Eltern durchgemacht hast (was hin und wieder der Fall ist).
Es liegt so viel Erleichterung darin, zu wissen, dass du es nur erkennen musst, um es loszulassen. Auch wenn du es dir jetzt vielleicht nicht vorstellen kannst, du kannst das loslassen.
Du musst es nur wollen.
Wir tragen Traumata in uns, die wir uns nicht einmal vorstellen können, geschweige denn, dass wir sie selbst durchlebt hätten.
Krieg, Gefangenschaft, Vertreibung und Flucht – all das ist in uns abgespeichert, ob wir uns dessen bewusst sind oder nicht.
Unsere Ahnen, die ihr Schicksal an uns weitergaben, weil sie es nicht besser wussten. Als Opfer, als Täter als Retter.
Sie entschieden vielleicht für sich, dass sie so leben wollten, vielleicht so leben mussten und schlossen uns damit ein, ohne es auch nur zu ahnen.
Doch wir sind durch die Generationen hinweg verbunden und tragen, was nicht aufgelöst werden konnte.
Manche Themen ziehen sich durch Familien wie ein roter Faden. Sie scheinen so mächtig, dass wir uns vor ihrem Angesicht klein und machtlos fühlen.
Dabei sind wir es nicht.
Ja, wir sind der Teil einer Geschichte, die in uns aus der Vergangenheit heraus bis zum heutigen Tag weiterwirkt. Vielleicht zerstörerisch und schmerzhaft. Ja.
Wir sind ein Teil eines roten Fadens, der durch uns auch weitererzählt werden wird. Weitergegeben an unsere Kinder und Enkelkinder und alle, die danach kommen werden. Wir sind verbunden über alle Zeiten und Generationen hinweg.